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Georg Diez

Sprache der Flüchtlingspolitik Monsterworte

Sprache macht den Menschen zum Menschen. Es sei denn, sie reduziert ihn auf eine Zahl. Genau das passiert aber gerade in diesem Moment mit den Geflüchteten.
Flüchtlinge auf einem Schlauchboot

Flüchtlinge auf einem Schlauchboot

Foto: Hermine Poschmann/ dpa

Politik ist Sprache, und wenn die Sprache sich verändert, verändert sich auch das Wesen der Politik - die Verrohung durch Taten beginnt mit der Verrohung von Worten, die Abstumpfung, das Ressentiment, die Ausgrenzung, der Rassismus, die Kälte, die Kriminalisierung, schließlich der Tod, hingenommen oder geplant, all das, was mit Menschen gemacht wird, bereitet sich vor durch Worte.

Wir erleben das gerade in einem Maßstab wie zuletzt vor 80 Jahren. Damals trafen sich Vertreter von 32 Staaten im französischen Kurort Évian, vom 6. bis 15. Juli 1938, um darüber zu verhandeln, wie 540.000 Juden aus Deutschland und Österreich verteilt werden könnten. Die Konferenz scheiterte. Ein paar Monate später wurden in den Novemberpogromen Juden ermordet, Geschäfte geplündert, Synagogen angezündet. Die Gemeinschaft der Völker hatte versagt.

"Ich hatte Lust aufzustehen und sie alle anzuschreien", schrieb die spätere israelische Ministerpräsidentin Golda Meir, die als Beobachterin in Évian dabei war. "Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten "Zahlen" menschliche Wesen sind?" Die Schriftstellerin Anna Seghers erzählte dann davon, was mit den verdammten Zahlen passiert, die Menschen sind, in der fatalen Logik der Flucht, dem ständigen Ringen mit der Rechtlosigkeit. Ihr Roman, der 1948 auf Deutsch erschien, heißt "Transit".

Getarnter Rechtsbruch

Und nun, 70 Jahre danach, 80 Jahre danach, wir haben wohl wenig gelernt: Wieder gibt es Kälte, Härte, Politik gegen Menschen, Worte werden verbogen, Werte verleugnet, Rassismus breitet sich aus im Inneren wie im Äußeren, mit brutalen Folgen: Der vergangene Juni war der tödlichste seit fünf Jahren, obwohl deutlich weniger Geflüchtete unterwegs sind, 629 Tote, so meldet die Hilfsorganisation Sea-Watch . Tragödien außerhalb der Sichtbarkeit, weil die Schlagzeilen der Zeitungen und Webseiten nicht voll sind von diesen Toten, die eine direkte Folge sind von Europas Abschottungspolitik, weil die Schlagzeilen voll sind von den Hahnenkämpfen dieser Abschottungspolitiker, die Verantwortung für diese Toten tragen.

Sie denken sich immer neue Monsterworte aus, diese Politiker, um ihre Verantwortung zu verschleiern, schreckliche, technokratische, sterile, bürokratische Maßnahmenworte, Umsetzungsworte, Tatenworte ohne Taten, denn es ist allein die Fiktion von Autorität, die in Worten wie "Masterplan" steckt oder "Ausschiffungsplattform" oder "Ankerzentren" - schlimmer noch, es sind Worte, die einen Rechtsbruch in abwaschbare Sprache verkleiden und so tun, als sei dieser tatsächliche Rechtsbruch die geeignete Maßnahme, um einen fiktiven Rechtsbruch zu bekämpfen.

Rechtstreue Seenotretter werden kriminalisiert

Denn nichts anderes ist die Grundlage der neuesten Worterfindung der "Transitzentren", besonders bitter in der Wortwahl, weil eben der Transit, so wie ihn Anna Seghers beschreibt, als zutiefst deutsche Fluchterfahrung, gerade die Fahrt in die Rettung war, die Hoffnung jedenfalls, dass am Ende des Ozeans etwas Gutes warten möge - aber es ist das historische Maß an Verrücktheit, das wir gerade erleben, oder auch Verkommenheit, dass die Große Koalition, unter Mitwirkung einer SPD, die sich kläglich dem Rechtsbruch ergibt, rechtsfreie Räume schafft und das Ende des Asylrechts betreibt, wie es der Erfahrung des deutschen Monsterverbrechens geschuldet war.

Die "Transitzentren" jedenfalls - oder eben nun nach dem Koalitionskompromiss das "Transitverfahren in Einrichtungen der Polizei" -, das beschreibt Olaf Kleist sehr gut im "Verfassungsblog" , setzen wesentliche Grund- und Menschenrechte aus, basierend auf einer rechtlichen Fiktion, einer angenommenen Nichteinreise von Asylsuchenden. Sie institutionalisieren einen politisch betriebenen Rechtsbruch und sind de facto Lager, auch wenn die Sprache der herrschenden deutschen Politik dieses Wort um jeden Preis vermeiden will.

Die Logik des gegenwärtigen und kaum maskierten Rechtsbruchs geht aber noch weiter, es ist ein Twist, den man wirklich nur pervers nennen kann, weil auf der Grundlage einer Politik der Kriminalisierung ausgerechnet die kriminalisiert werden, die sich für geltendes Recht einsetzen, sei es die Rettung in Seenot, die gesetzlich geregelt ist, seien es die allgemeinen Menschenrechte - aber seit Jahren schon werden individuelle Helfer oder Hilfsorganisationen juristisch verfolgt und vor Gericht gestellt, es ist ein wenig so, als würde man Varian Fry oder Raoul Wallenberg, berühmte Retter von Tausenden verfolgten Juden, als Schleuser bestrafen wollen.

Frontex ist kein Helfer, sondern Abschrecker

Dass die AfD vollkommen empathiefrei, geschichtsvergessen und menschenfeindlich agiert, das muss nicht überraschen. Sie polemisiert gegen Hilfsorganisationen als "kriminelle Vereinigungen", eine Formulierung, die strafrechtlich verfolgt werden sollte. Und die Kriminalisierung von Organisationen wie Sea-Watch - der aktuellste Fall ist die Festsetzung des Bootes "Lifeline" in Malta, ein Flugverbot für das Aufklärungsflugzeug der Organisation und eine mögliche Anklage gegen die Besatzung - dient dabei vor allem dazu, die direkte Verantwortung der Politik für die Toten im Mittelmeer zu verschleiern. Wobei sich Deutschland und der Rest Europas seit Jahren schon wegdrehten, wegschauten und Italien im Stich ließen bei der Rettung im Mittelmeer.

Europa hatte sich für eine polizeistaatliche Lösung entschieden, durch Frontex, die das klare Ziel hatte, nicht Menschenleben zu retten, sondern Migranten abzuschrecken. Durch die neue italienische Regierung und die Hafenschließungen für Rettungsboote, veranlasst von Innenminister Matteo Salvini, der von Geflüchteten als "Menschenfleisch" spricht, gibt es nun eine Kettenreaktion, die die mühsam verschleierte Grausamkeit des gegenwärtigen Umgangs mit Geflüchteten deutlich macht. Die wahrhaft zynische Logik ist es dabei, wenn man die, die fliehen wollen, zuerst in die Illegalität treibt und sie dann der Illegalität beschuldigt.

Und so werden sich spätere Generation mal wieder wundern über uns, über das Maß an Wirklichkeitsverleugnung, Werteverweigerung, hingenommenem Sterben, befördert durch gezielte Wortverdrehungen. Sprache ist das, was den Menschen zum Menschen macht. Es sei denn, sie reduziert den Menschen auf eine Zahl.